Die Geiselnahme in Berlin
Am 11. April 2003 stürmte der Geiselnehmer Dieter W. in Berlin-Steglitz eine Bank, überfiel sie und brachte anschließend einen Bus in seine Gewalt, in dem er Menschen als Geiseln nahm. Diese Geschichte machte bundesweit Schlagzeilen.
Was ich damit zu tun hatte, lesen Sie hier.
Am 11. April 2003, einem herrlichen Frühlingsmorgen, machte ich mich wie immer auf den Weg zum Berliner Rundfunk 91!4 nach Berlin-Mitte, um meinen Dienst als Nachrichtenredakteur und Sprecher anzutreten. Die Uhr zeigte genau 10:00 Uhr, als ich voller Vorfreude den Redaktionsraum betrat. Es war der Beginn eines ganz normalen Arbeitstages, an dem ich mich auf meine bevorstehende Sendung um 12 Uhr vorbereitete.
An meinem Schreibtisch angekommen, auf dem auch das Mikrofon und ein großes Mischpult für die Nachrichtensendung stand, gönnte ich mir erst einmal eine große Tasse Kaffee. Dabei unterhielt ich mich angeregt mit einigen Kollegen, während unsere Blicke immer wieder zu den zahlreichen Monitoren im Redaktionsraum wanderten. Dort flimmerten die wichtigsten Nachrichtensender und hielten uns auf dem Laufenden.
Von einem Moment auf den Anderen rasten plötzlich rote Laufbänder über die Bildschirme und eine beunruhigende Stille legte sich über den Raum. +++EILMELDUNG: GEISELNAHME IN BERLIN+++ erschien in leuchtenden Buchstaben auf allen Bildschirmen. Es war ein Schockmoment, der uns alle aufhorchen ließ und die Atmosphäre schlagartig veränderte. Sofort öffnete ich meinen Texteditor, um einen Beitrag für meine 12-Uhr-Sendung vorzubereiten. Es war unbedingt notwendig, diese wichtige Nachricht sofort zu verbreiten.
Die Redaktion erwachte in diesem Moment zu pulsierendem Leben. Überall liefen Mitarbeiter hektisch durch den Raum, telefonierten, recherchierten und diskutierten angeregt. Die Anspannung und der Ernst der Lage waren förmlich greifbar.
Als es endlich 12 Uhr war, begann ich meine Sendung wie geplant und las die dreiminütigen Nachrichtentexte live auf Sendung. Kein Versprecher durfte mir unterlaufen, denn meine erste Meldung war natürlich die Geiselnahme. Mit versucht ruhiger Stimme gab ich die neuesten Informationen an unsere Hörer weiter. Dann endlich der erlösende Satz: "Das waren die Nachrichten bei Ihrem Berliner Rundfunk 91!4 - Wissen was los ist!"
Kurz nach der Sendung erhielt ich einen Anruf von Normen Sträche, dem Mittagsmoderator des Senders. Er bat mich eindringlich, zu ihm ins Sendestudio zu kommen. Neugierig und ein wenig überrascht machte ich mich auf den Weg. Dort angekommen erzählte er mir, dass jemand am Telefon behauptet, der Geiselnehmer aus dem Bus zu sein. Zuerst hielt ich das Ganze für einen schlechten Scherz und konnte nicht glauben, dass ein Geiselnehmer tatsächlich während einer laufenden Geiselnahme anruft.
Selbstbewusst nahm ich den Hörer ab und stellte mich dem Anrufer vor. Innerlich dachte ich: "Das kann doch nicht der Geiselnehmer sein, sondern nur ein Idiot, der sich einen geschmacklosen Scherz erlaubt". Doch meine Annahme sollte sich als falsch erweisen. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war rau, bedrohlich und verriet eine unüberwindliche Entschlossenheit. Es war der Geiselnehmer, der direkt mit mir sprechen wollte.
Das Telefonat im Wortlaut:
Geiselnehmer: „Berliner Rundfunk?“
J.W.: „Ja. Mit wem spreche ich denn bitte?“
Geiselnehmer: „Ich bin der Geiselnehmer aus dem Bus.“
J.W.: „Okay, schönen guten Tag. Wo befinden Sie sich denn jetzt aktuell?“
Geiselnehmer: „Wie heißt das hier? Am Sachsendamm stehe ich im Bus und 300 Bullen um mich rum.“
J.W.: „Aha. Und wie sind die Forderungen?“
Geiselnehmer: „Die Forderung ist einfach das, ich habe gesagt, ich will hier einfach deeskalieren. Ich habe die ganzen Geiseln laufen lassen, schon, außer zwei Leute und wollte deeskalieren. Das heißt, irgendwann auch vielleicht sogar aufgeben. Oder ’ne Möglichkeit haben wegzukommen.“
J.W.: „Was fordern Sie denn ganz genau? Was möchten Sie denn?“
Geiselnehmer: „Ich habe erst mal gesagt, ich will einen Hubschrauber haben.“
J.W.: „Einen Hubschrauber?“
Geiselnehmer: „Ich will also hier vom Sachsendamm weggefahren werden. Die haben den Fahrer rausgezogen aus dem Bus.“
J.W.: „Aha.“
Geiselnehmer: „Der ist dann abgehauen, was ich ihm auch gönne.“
J.W.: „Okay. Wie geht es denn den Geiseln aktuell?“
Geiselnehmer: „Denen geht’s gut. Ich gebe Ihnen die mal.“
Geisel: „Hallo. Uns geht es gut, uns geht es gut. Wir sitzen hier im Bus.“
J.W.: „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Geisel: „Ja, es ist alles in Ordnung.“
J.W.: „Wie fühlen Sie sich aktuell?“
Geisel: „Wie man sich so fühlt in so einer Situation. Angenehm ist es nicht gerade.“
J.W.: „Kann ich mir vorstellen.“
Geisel: „Ich gebe Ihnen mal...“
J.W.: „. . . den Geiselnehmer zurück. Dankeschön.“
Polizistin: „Hallo?“
J.W.: „Hallo. Sie sind auch eine Geisel, eine Betroffene, ja?“
Polizistin: „Ich bin die Polizistin, die sich im Bus befindet.“
J.W.: „Sie sind die Polizistin im Bus. Wie fühlen Sie sich aktuell. Geht es Ihnen gut?“
Polizistin: „Ja, so weit geht es uns gut.“
J.W.: Wir haben gehört, es soll ein Schuss gefallen sein. Was ist da genau passiert?“
Polizistin: „Das ist versehentlich passiert. Der Geiselnehmer hat sich versehentlich mit meiner Waffe selber ins Bein geschossen, beinahe, also
nur durch die Hose.“
J.W.: „Möchten Sie, dass wir das senden?“
Polizistin: „Ich möchte nicht, dass es gesendet wird. Aber der Geiselnehmer möchte das.“
Die Worte des Geiselnehmers hallten noch lange in meinem Kopf nach und ich konnte kaum glauben, dass ich gerade mit ihm gesprochen hatte. Es war ein beängstigendes und doch faszinierendes Erlebnis, das mein Blut zum Pulsieren brachte.
Nach dem Gespräch zitterten meine Hände und ich war von einer Mischung aus Angst und Adrenalin erfüllt. Ich eilte zu meinem Nachrichtenchef Mark Schubert, der gerade Mittagspause hatte. Normalerweise hätte er das Interview führen sollen, schließlich war ich ein junger Volontär am Anfang seiner Karriere. Aber das Schicksal wollte es anders.
Mark war nicht begeistert von der Situation, aber auf ausdrücklichen Wunsch des Geiselnehmers beschlossen wir, das Interview zu senden. Wenig später überschlugen sich die Ereignisse. Programmdirektor Detlef Normann rief aus dem Auto an, empört über unsere Entscheidung, eine so brisante Aufnahme zu senden. In der Redaktion stand das Telefon nicht mehr still, Redaktionen aus ganz Deutschland versuchten, sich zu informieren. Es war, als ob die ganze Welt auf einmal auf uns aufmerksam geworden wäre.
Kurz nach 14:00 Uhr war die Geiselnahme zu Ende. Die Geiseln und Dieter W. wurden vom SEK aus dem BVG-Bus geholt. Blitzschnell. Der damalige Innensenator Ehrhart Körting gratulierte der Polizei, für diese saubere Arbeit.
Für mich sollte die Sache noch nicht zu Ende sein. Mitten im Chaos kam Mark wieder auf mich zu und sagte trocken: "RTL Explosiv hat angerufen. Sie kommen jetzt. Mach dich bereit für ein Interview." Ich war immer noch überwältigt von den Ereignissen und spürte, wie meine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Mit zitternden Händen ging ich auf die Toilette, um mich etwas zu beruhigen und mein Äußeres in Ordnung zu bringen. Wenig später stand das Fernsehteam bereit, und wir wurden ins Studio B eskortiert, das normalerweise als Reservestudio diente.
Die Fragen von Redakteur Christian Schröter prasselten auf uns ein, und mein Chef Mark Schubert übernahm weitgehend die Antworten, während ich versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen. Meine Nervosität ließ mich auf meinen Lippen herumkauen, und zu meinem Bedauern guckte ich auch noch direkt in die Kamera - wie peinlich.
Nach dem Interview kehrte ich an meinen Nachrichtenplatz zurück und setzte meine eigentliche Arbeit fort, auch wenn es mir sehr schwer fiel. Die Zeit verging wie im Flug und ich sprach die nächsten Nachrichten, während die Uhr unaufhaltsam auf 20 Uhr zuging.
Da um 19:10 Uhr RTL Explosiv ausgestrahlt wurde, sah ich noch während meiner Schicht mein eigenes Interview auf dem Redaktionsfernseher. Es war surreal, mich selbst im Fernsehen zu sehen und zu realisieren, dass meine Worte gerade ein paar Stunden alt sind. Mein Radiointerview mit dem Geiselnehmer wurde auf allen großen Fernseh- und Radiosendern ausgestrahlt, sogar in der Tagesschau. Es war ein unglaubliches Gefühl, dass meine Stimme plötzlich im ganzen Land gehört wurde.
Erschöpft und noch mit den schrecklichen Bildern der Geiselnahme im Kopf machte ich mich auf den Weg nach Hause. Es war schwer zu begreifen, was ich an diesem Tag erlebt hatte. In nur einer einzigen Nachrichtensendung war ich mit den Höhen und Tiefen des Journalismus konfrontiert worden, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Ich hatte eine schreckliche Nacht und wälzte mich von links nach rechts. Immer wieder hatte ich Stimmen im Kopf, sah mich in der Redaktion sitzen, und als es vorbei war, fing alles wieder von vorne an.
Am nächsten Morgen begrüßten mich die Schlagzeilen der Zeitungen an den Kiosken. Das Thema Geiselnahme beherrschte die Titelseiten aller Tageszeitungen und mein Name wurde in vielen Artikeln erwähnt. Es war ein überwältigendes Gefühl, Teil eines historischen Moments zu sein - eines Moments, der mein Leben und meine Karriere für immer prägen sollte.
Wer dachte, damit sei die Sache erledigt, der irrt. Ein gutes Jahr später erhielt ich Post vom Amtsgericht Berlin-Moabit. Ladung zur Hauptverhandlung in der Sache "Geiselnahme vom 11.04.2003". Ich nahm mir für diesen Tag frei und fuhr mit dem Zug von Halle (Saale) nach Berlin, um an der Verhandlung teilnehmen zu können. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich nämlich in der Nachrichtenredaktion des Radiosenders MDR Sputnik. Kurz nach 9 Uhr wurde ich am 13. Mai 2004 aufgerufen und in den Gerichtssaal begleitet. Anwesend waren der Geiselnehmer Dieter W., der Busfahrer und Staranwalt Gregor Gysi. Von ihm zu diesem Fall befragt zu werden, war wirklich der krönende Abschluss.
Der notorische Bankräuber und Geiselnehmer Dieter W. war im Juni 2004 vom Berliner Landgericht zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Danach - und das hatte der damals 48-Jährige besonders gefürchtet - sollte er in Sicherungsverwahrung kommen. Zur Sicherungsverwahrung kam es nicht, am 11. April 2016 wurde Dieter W. vorzeitig aus der Haft entlassen - wegen guter Führung.